Evelyn Glennie, Autorreifen und die Kunst des Schenkens
Weihnachten steht wieder vor der Tür.
Also, für mich wieder eine Gelegenheit, über den Sinn oder Unsinn des Schenkens nachzudenken. Und schon kommen bei mir Erinnerungen hoch – an vergangene Weihnachten. Und in diesem Zusammenhang kommen Evelyn Glennie und Autoreifen an die Oberfläche und ins Bewusstsein.
Ich vermute, dass die meisten mit dem Namen Evelyn Glennie nicht viel anfangen können.
Ist auch nicht zu erwarten. Sie ist keine Nobelpreisträgerin, Politikerin oder Schauspielerin – und auch kein Popstar. Und das Weihnachten, um das es sich hier handelt, ist schon länger vorbei. Dennoch, ausgerechnet Evelyn Glennie hat mit dem Sinn des Schenkens eine tiefe Verbindung – für mich.
Evelyn Glennie ist Perkussionistin, d.h. ihre musikalische Spezialität ist Schlagwerk. Sie ist Schottin, was aber hier nur insofern eine Rolle spielt, als dass sie zu der Zeit dieser Geschichte nicht unbedingt eine große Präsenz in den USA hatte – und dort habe ich gewohnt. Irgendwann habe ich, etwa Mitte meiner Zwanzigerjahre, Evelyn Glennie wahrgenommen. Und mir eine Aufnahme von ihr gewünscht. Es ist so lange her, dass ich nicht mehr sagen kann, ob es sich dabei um eine Schallplatte handelte, oder ob es damals bereits CDs gegeben hat. In beiden Fällen wäre es allerdings nicht so, dass man einfach ins Geschäft hätte spazieren können und die Aufnahme kaufen, geschweige denn, sich ins Internet einloggen, bestellen und liefern lassen. Weit gefehlt! Auf jeden Fall, ich habe wohl diesen Wunsch irgendwann laut geäußert und bin dann mit dem Leben beschäftigt gewesen. Aus dem Mund und aus dem Sinn, sozusagen. Und dann kam Weihnachten.
Evelyn Glennie lag unter dem Weihnachtsbaum. Na ja, nicht Evelyn selbst, natürlich, aber eine Aufnahme von ihr. Erstaunlich! Meine Mutter hatte den Wunsch mitbekommen, sich notiert und eine Aufnahme besorgt. Sie kannte die Künstlerin vorher nicht. Es gab keine Musikladen vor Ort. Sie hat allerdings alles darangesetzt, mir den Wunsch zu erfüllen. Eine sehr gelungene Aktion – denn ich schätze diese Erinnerungen immer noch sehr, Jahrzehnte später. Ich weiß nicht, wo sich die Schallplatte (oder CD) heute befindet – ich lebe auf einem anderen Kontinent und bin mehrmals umgezogen – aber die Erinnerung an das Schenken, sie ist noch bei mir, und zwar sehr lebendig.
(Ach ja, nur so nebenbei: Evelyn Glennie spielt heute noch und hat etliche Grammys gewonnen. Man findet Aufnahmen von ihr bei Spotify und auf Youtube. Und sie ist gehörlos)
Es bleibt noch die Sache mit den Autoreifen.
Mein Vater dachte im Vergleich zu meiner Mutter eher pragmatisch. Er arbeitete, um die Familie zu ernähren (8 Personen!) und machte sich lange Zeit viele Sorgen ums Geld. Allerdings liebte er Weihnachten und er packte immer alle Geschenke ein, schmückte den Baum und hatte die offizielle Überreichung der Geschenke an Weihnachten stets im Blick. Seine Auswahl der Geschenke für meine Mutter wurde allerdings nicht immer mit der Begeisterung aufgenommen, die er sich vermutlich erhofft hatte. Er schenkte nicht ungern. Das war es nicht. Aber er schenkte, nun ja, wie gesagt, pragmatisch. Als meine ältere Schwester alt genug wurde, um ihm zu Hilfe zu kommen, wurde die Sache besser. Dann passten Auswahl, Größe und Farben erheblich besser. Also, entweder lag die Sache mit den Autoreifen davor oder er hat meine Schwester nicht konsultiert.
Auf jeden Fall teilte er an diesem Weihnachten meiner Mutter mit, dass ihr Geschenk von ihm am Baum hängen wurde. Ich bin sicher, dass ihre Erwartungen gingen in Richtung „klein, aber fein“ – vielleicht vermutete sie eine Halskette, oder ein schönes Halstuch – sie hat es danach nie in Wörter gefasst. Womit sie nicht gerechnet hat, war einen Schlüsselanhänger. Schon gar nicht einen, der wie einen Autoreifen geformt war. Als Stellvertreter, nun ja, für – und nun kommt’s – einen Satz neuen Winterreifen.
Und die Weihnachtsstimmung war dahin.
Seine Absichten waren ehrenhaft. Er wollte meine Mutter Sicherheit schenken. Und dabei auch wirtschaftlich denken. Unter anderen Umständen hätte er wohl Lob bekommen. Aber zu Weihnachten? Die Idee kam nicht so an, wie sie gemeint war. Er hatte die Wünsche und Bedürfnisse meiner Mutter leider etwas außer Acht gelassen.
Und was habe ich aus diesen Erinnerungen für mich als Lehre gezogen?
Der wahre Geist des Schenkens liegt nicht nur in meiner Absicht. Es geht darum, ehrlich Freude zu bereiten. Es erfordert Empathie, Kreativität und die Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen. Und gut zuzuhören.
Das macht das Schenken zu einer Kunst.